„Das ist sooo ungerecht!“ – Über Gerechtigkeit und göttliche Allmacht

Wer kennt es nicht: die Diskussionen mit den eigenen Kindern über ein neues Mobiltelefon, die Erlaubnis, zu einer Party zu gehen oder die 20 Euro Extra-Taschengeld? Früher oder später kommt es zu dieser denkwürdigen Anklage: „Das ist so ungerecht! Aline und Mona dürfen auch auf die Party und die müssen nicht schon wieder um 23:00 Uhr zu Hause sein!“ oder „Ich finde das total fies von Dir, alle anderen in meiner Klasse haben schon das 12er iPhone. Nur ich nicht! Die glauben alle, dass wir total arm sind. Das finde ich so ungerecht!“

Auch wenn wir diese Argumentationstaktik schon so häufig erlebt haben und kindisch finden: Auch im beruflichen Umfeld werden wir immer wieder damit konfrontiert. „Dass die Svenja jetzt eine Gehaltserhöhung bekommen hat, ist ja in Ordnung. Aber wir machen ja die gleiche Arbeit, da habe ich ja auch ein Recht auf mehr Geld. Sonst ist das ja total ungerecht!“ Oder: „Wenn der Chris jetzt Freitags Home Office machen darf, dann will ich das auch! Sonst ist das echt total ungerecht!“

Und besonders zu Wahlkampfzeiten scheint es allen Parteien nur um eines zu gehen: Gerechtigkeit! Es werden gerechtere Löhne, eine gerechtere Wohnungsbaupolitik und ein gerechtes Rentensystem gefordert! Jugendliche benötigen gerechtere Bildungschancen, Frauen gerechtere Aufstiegschancen und Pflegekräfte eine gerechtere Bezahlung.

Gerechtigkeit ist ein missbrauchter Begriff!

Wenn wir darüber einen Moment nachdenken, stellen wir fest, dass „Gerechtigkeit“ ein völlig abstrakter Begriff ist, der für uns immer unerfüllbar bleiben muss. Denn bei diesem Begriff muss man immer mitdenken: „gerecht im Vergleich zu…?“

Gerechtigkeit wird gerne verwechselt mit dem Begriff der „Fairness“, ist aber kein Synonym dafür. Bei Fairness geht es um einen ausgleichenden und wertschätzenden Umgang mit meinem Gegenüber. Gerechtigkeit appelliert stattdessen an eine höhere Instanz. Gerechtigkeit spricht von Moral. Fairness spricht von Ausgleich.

Trotzdem ist Gerechtigkeit ein wichtiger Begriff, denn unser Umgang miteinander sollte darum bemüht sein, unseren Mitmenschen und uns selbst Teilhabe zu ermöglichen. Gerechtigkeit fordert uns auf, unser Gegenüber und seine Bedürfnisse wahrzunehmen und zu akzeptieren. Zur Vermeidung von Konflikten und für ein harmonisches Zusammenleben hilft es, wenn wir versuchen, einen Interessenausgleich, also eine „relative“ Gerechtigkeit herzustellen.

Vorsicht ist aber insbesondere dann geboten, wenn Gerechtigkeit als „Kampfbegriff“ Verwendung findet.

Die moralische Keule!

Immer, wenn Menschen beklagen, dass sie selbst ungerecht behandelt worden seien und dass unsere Gesellschaft unter einem Mangel an Gerechtigkeit leide, treffen sie eine stillschweigende Annahme zu ihrem eigenen Vorteil: Sie unterstellen, es gäbe eine „absolute“ Gerechtigkeit. Vor dieser „absoluten“ Gerechtigkeit und ihren (verborgenen) Kriterien konstruieren sich die Klagenden in die Rolle des Opfers, das unter den aktuell „ungerechten“ Zuständen leiden muss.

Alternativ treten sie auch für andere „Opfer“ ein und fordern die „Solidarisierung“ aller nicht Betroffenen, um „der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen“ oder „diese himmelschreiende Ungerechtigkeit endlich zu beenden.“

Merke: Menschen, die sich selbst ungerecht behandelt fühlen, tun nichts anderes als für sich selbst einzufordern, dass ihnen persönlich mehr zusteht als sie bisher bekommen haben. Und Schuld daran tragen andere!

Diese Menschen nehmen für sich in Anspruch, für Gerechtigkeit einzutreten und zu wissen, was denn als „absolut gerecht“ angesehen werden soll und was nicht. Sie unterstellen darüber hinaus, dass es für die erlittene Ungerechtigkeit einen oder mehrere Verantwortliche gibt und dass diese unethisch gehandelt haben. Mit anderen Worten: Jemand (der Chef, der Vater, die Partnerin, die Kollegin etc.) oder „etwas“ (die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Immobilienhaie etc.) tragen die Schuld für ihr Leiden und das Leiden aller anderen Betroffenen. Weil sie weniger bekommen haben, als ihnen nach ihrer eigenen Einschätzung zustünde.

Damit wird der durchsichtige – aber häufig wirkungsvolle – Versuch unternommen, das Gegenüber in eine moralisch fragwürdige und unterlegene Position zu drängen und Druck auszuüben. Sei es direkt und persönlich im Gespräch oder – wie bei politischen Parteien und Interessengruppen aller Art – indirekt durch entsprechende Forderungen und Propaganda.

Vorsicht ist also geboten, wenn eine Gruppe den „Umbau für eine gerechtere Gesellschaft“ oder ähnliches fordert: hier sind die Ideologen unterwegs, die glauben zu wissen, was gut und gerecht für alle ist. Meistens ist es das, was ihnen selbst nützt, zum Beispiel in Form von Macht und Einfluss, Geld oder öffentliche Aufmerksamkeit. Oder alles zusammen.

Mein Führungs-Tip

Es ist für uns als Führungskräfte und als Unternehmen weder sinnvoll noch plausibel, unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Potenzialen in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichen Erfahrungen immer gleich zu behandeln, nur um als „gerecht“ zu gelten.

Wenn wir mit unseren Kunden, Kollegen, Mitarbeitern und externen Partnern nach den Geboten der Fairness zusammenarbeiten und wenn wir glaubhaft positiven Unternehmenswerten folgen, entfällt jeder Grund für Gerechtigkeitsdiskussionen.

Wenn Mitarbeiter versuchen, mit der Forderung nach „mehr Gerechtigkeit“ zu polarisieren, versuchen sie zu manipulieren. Diesen Mitarbeitern – „Aktivisten“ in eigener Sache – sollte klargemacht werden, worum es bei diesem Spiel wirklich geht: um ihre Machtanmaßung und den Aufbau von moralischem Druck, um einen unfairen Vorteil für sich selbst oder eine bestimmte „Opfergruppe“ zu ergattern.

Als Führungskraft sollten wir uns darum bemühen, diese Spiele so klar wie möglich zu adressieren und so schnell wie möglich zu unterbinden. Denn leider kann man mit nichts anderem so leicht Menschen hinter sich scharen wie mit den Begriffen von Gerechtigkeit, Ungerechtigkeit und Schuld.

Wer an die Existenz einer absoluten Gerechtigkeit glaubt hat Hoffnung. Wer aber glaubt zu wissen, was die absolute Gerechtigkeit genau ist und was nicht, leidet unter Hybris. Denn das Herstellen von absoluter Gerechtigkeit ist nur der göttlichen Allmacht vorbehalten. Und das ist gut so.

Denkblockaden: Verantwortung und die Angst vor Schuld

Es gibt Begriffe, die gerade bei jüngeren Führungskräften instinktiv Abwehr erzeugen, Themen, die fast als Tabu aufgefasst werden. In der Reihe „Denkblockaden“ spüren wir diese Begriffe auf und setzen sie in einen hilfreichen Zusammenhang. Heute geht es um Verantwortung!

Heute – am 24. März 2021 – ist ein denkwürdiger Tag: Nachdem das gemeinsame Gremium aus Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten gestern, nach einem 15-stündigen Verhandlungsmarathon, morgens um 2:30 Uhr verkündet hatte, über die Osterfeiertage einen „harten Lockdown“ durchzuführen und dazu auch den Gründonnerstag und den Ostersamstag zu „Ruhetagen“ zu erklären, wurde diese Entscheidung heute Mittag gegen 12:30 Uhr durch die Bundeskanzlerin zurückgenommen. Sie entschuldigte sich in der eilig einberufenen Presse-Konferenz dafür und nahm die Verantwortung für diese Entscheidung („qua Amt“ wie sie betonte) auf sich. Und schon stellten die ersten Journalisten die Frage nach der „Schuld“: Wer hatte Schuld an dieser Entscheidung? Wer an der vorherigen? Und so weiter…..

Auch wenn die Folgen dieser Entscheidung, bzw. der Korrektur einer vorher falschen Entscheidung, aus politischer Sicht noch nicht abschliessend beantwortet werden können, ist dies ein guter Anlass, sich mit zwei Begriffen zu beschäftigen, die eng zusammengehören und in meinen Coaching-Gesprächen immer wieder eine große Rolle spielen: Verantwortung und Schuld!

Der Begriff der „Verantwortung“ kommt von „Antwort geben können“. Und damit ist gemeint, dass man jederzeit in der Lage sein sollte, über eine Aufgabe, die man übernommen hat, Auskunft geben zu können. Viele Führungskräfte haben dieses Verhalten so sehr verinnerlicht, dass sie glauben, immer und auf jede Frage sofort eine Antwort parat haben zu müssen. Sie konzentrieren sich so sehr darauf, eine passende Antwort – und wenn es eine hohle Floskel ist – bereit zu halten, dass sie das Zuhören und Verstehen verlernt haben. Sie leiden unter dem „Radio-Syndrom“: das Schlimmste, das passieren kann, ist: Stille

Verantwortung und Selbstüberforderung

Nicht nur bei so komplexen Aufgaben wie einer nationalen Impfstrategie oder einer milliardenschweren Impfstoff-Beschaffung kommt es zu unvorhergesehenen Schwierigkeiten. Auch bei viel kleineren Aufgaben und Projekten müssen wir davon ausgehen, dass der „Plan“ dem Praxistest nicht ohne Anpassungen standhalten wird. Das weiß jeder Projektmanager aus eigener Erfahrung. Der veranschlagte Aufwand läuft aus dem Ruder, Zusagen können nicht eingehalten werden, technische Probleme beeinträchtigen den Fortschritt. Die Aufgabe des oder der Verantwortlichen ist es hier zunächst, beim Auftreten eines – hoffentlich vorhergesehenen – Risikos, alle Beteiligten darüber zu informieren und sie dann dabei zu unterstützen, eine angepasste Vorgehensweise zu wählen und umzusetzen.

Die große Gefahr ist dabei, sich selbst zu überfordern. Zu gerne wollen wir uns selbst und allen Anderen beweisen, dass wir die „Lage im Griff haben“ und die Schwierigkeiten überwinden können. Und zu häufig müssen Führungskräfte später – manchmal zu spät – erkennen, dass sie an den vielen Eskalationsmeetings, unterschiedlichen Interessen und dem Wunsch, es allen recht machen zu wollen, gescheitert sind. So lange ein Verantwortungsträger noch hofft, die aktuelle Misere im Laufe der Zeit noch selber reparieren zu können, werden sich diese Eskalationen zuspitzen. Die damit verbundenen Probleme wachsen, bis sie ein Ausmaß erreicht haben, das nicht mehr zu rechtfertigen ist.

Das Risiko des Misserfolgs

Jeder Mensch, der Verantwortung für ein Projekt, ein Unternehmen, eine Belegschaft trägt, weiß: Es besteht immer das Risiko, zu scheitern. Und dieses Scheitern enthält nicht nur „wertvolle Lektionen, die zur Erfahrung beitragen“. Jedes Scheitern, jeder Misserfolg hat Folgen, die sich als Nachteile für einen selbst, das Unternehmen, das Team oder die Projektteilnehmer erweisen. Sei es vernichtetes Budget, Nachteile in der weiteren Umsetzung oder sogar der Verlust eines Auftrags oder eines Arbeitsplatzes: es gibt keinen Freifahrt-Schein.

Deshalb entstehen bei Verantwortungsträgern, die einen Misserfolg zu verkraften haben, häufig Schuldgefühle. Das Selbstwertgefühl ist angeschlagen. Sie fühlen sich „entwertet“ und spüren einen Verlust an Reputation und Einfluss, weil sie angeblich „versagt“ haben. Mit dieser Haltung einer eigenen Schuld können sie sich den Misserfolg nicht verzeihen und trauen sich auch für weitere Aufgaben weniger zu. Sie versuchen, der Verantwortung aus Angst vor weiteren Misserfolgen aus dem Weg zu gehen.

Gerade bei jungen Führungskräften ist es daher von besonderer Wichtigkeit, sie nicht alleine zu lassen, wenn im Projekt oder im Team eine schwierige Situation eintritt. Es genügt nicht, sie mit einem „Regeln Sie dass. Bis morgen.“ alleine zu lassen. Stattdessen brauchen sie in dieser schwierigen Situation persönliche Anleitung und Unterstützung, sei es durch ihre direkten Vorgesetzten oder einen externen Mentor, der sie unterstützt. 

Wenn Verantwortung fehlt und was die Folgen sind

In den letzten Jahren habe ich in meinen Projekten immer wieder erlebt, dass es einen gewissen „Führungs-Tourismus“ in Unternehmen gibt:

Da gute Führungskräfte Mangelware sind und auch am externen Arbeitsmarkt nur schwer Mitarbeiter zu finden sind, die für einen verantwortungsvollen Posten das nötige Potenzial erkennen lassen, werden Teamleitungen oder Projektleitungs-Jobs mit relativ leichter Hand vergeben. Da gibt es eine Mitarbeiterin, die sich stärker als ihre Kolleginnen engagiert oder einen Kollegen, der Spaß am Organisieren hat und selbst kontinuierlich gute Arbeitsergebnisse abliefert. Da im Moment eh niemand anderes zur Verfügung steht, erhalten diese engagierten Kollegen das Angebot, die neue Leitungsfunktion zu übernehmen und „mal auszuprobieren, ob das passt.“ Und da – wie immer – die Zeit drängt, wird spontan losgelegt. Keine Rollenklärung, keine aktuellen Ausbildungsangebote, kein Coaching.

Es kommt wie es kommen musste: Die Maximalmotivierten versuchen, alle Probleme selbst zu lösen – und scheitern. Und nach dieser Erfahrung, vielleicht noch zusätzlich unterstützt durch die negativen Kommentare der ehemaligen Kollegen („das konnte ja nichts werden….hab ich ja gleich gesagt…“), lehnen sie weitere Führungsverantwortung ab. Eine verpasste Chance.

Was ist die Folge? In vielen Fällen wird nun eine Absicherungsstrategie gefahren: Anstatt eine oder einen Verantwortlichen zu definieren und zu unterstützen, werden alle Entscheidungen an ein Gremium delegiert, hinter dem man sich verstecken kann. Das Risiko des Misserfolgs wird so bestmöglich abgefedert, was die persönliche Rolle angeht. Entscheidungen sind damit immer Maximalkompromisse, auf die man sich gerade noch einigen kann. Echter Fortschritt oder Innovationen können in diesem Klima von Absicherung und Vorsicht nur schwer gedeihen.

Fazit für die Führung

Verantwortung und das Risiko des Scheiterns sind untrennbar miteinander verbunden. Wer das eine will muss das andere in Kauf nehmen. Die Verschiebung von Verantwortung an Gremien löst dieses Dilemma nicht auf, sondern sorgt nur dafür, dass nichts mehr entschieden wird. Insbesondere junge Führungskräfte und Verantwortungsträger müssen lernen, mit ihrer Verantwortung und den Risiken umgehen zu können. Das geht nicht ohne Hilfe.

Der persönliche Ehrgeiz, von außen vorgegebene Ziele, die nicht verhandelt werden können und die Angst, den an sie gestellten Erwartungen nicht gerecht werden zu können, bilden die Grundlage für den Eintritt in das Wechselspiel von Schuld und Verantwortung. Je offener die Kooperationskultur im Unternehmen ist und je offener auch über Misserfolge und die gefühlsmäßige Erfahrung des Scheiterns gesprochen werden kann, umso bereitwilliger werden sich junge Führungskräfte finden lassen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen. 

Ziel sollte es sein, Führungskräfte darauf vorzubereiten, mit Misserfolgen umgehen zu können, sich nicht in Schuldzuschreibungen zu verstricken und vor allem: das Gefühl zu entwickeln, dass sie nicht fallengelassen werden. Ein Business Mentor – egal ob interner Kollege oder ein führungserfahrener Externer – kann hier wichtige Hilfestellungen geben, Unsicherheiten nehmen und dafür sorgen, dass der Fokus gewahrt bleibt. 


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