img-alternative-textAls ich 2013 nach meiner ersten Krebserkrankung und sechs Monaten Pause wieder meine Arbeit aufnahm, wurde mir eine Frage von meinen Klienten besonders häufig gestellt: „Wie hat sich Ihr Leben jetzt geändert?“ Die gleiche Frage bekomme ich heute – nach erfolgreichem Wiederholungskampf in 2016 – wieder gestellt. Gute Frage!

Eine wesentliche Erkenntnis für mich ist: Der Krankheit ist es vollkommen egal, wer Du bist. Sie trifft den „Guten“ genau so wie den „Bösen“. Sie ist keine persönliche Strafe.

Diese nüchterne Erkenntnis hat mich sehr entspannt. Denn damit musste ich mich nicht zu sehr mit der Frage nach dem „Warum ich?“ beschäftigen. Die logische Antwort für mich war: „Warum nicht?“

Ich bin zweimal an Krebs erkrankt. Das passiert täglich irgendjemandem irgendwo. Ich wurde behandelt und habe zweimal hart gekämpft. Mir geht es wieder gut. Problem gelöst. Ist das schon die ganze Geschichte?

Nicht ganz. Denn eine solche Erkrankung sorgt dafür, dass man sehr schnell aus allen üblichen Mechanismen der Gesellschaft herausfällt. Durch die Krankheit hatte ich zum ersten Mal in meinem Leben das Gefühl, nichts zu müssen. Zum ersten Mal wurde von mir nichts erwartet. Ich durfte nun auch mal müde sein, traurig, überfordert oder ängstlich. Und mein Umfeld akzeptierte das.

Mir gab das ein wenig das Gefühl von Narrenfreiheit. Das ganze Korsett von „tun müssen“, „nicht tun dürfen“ usw. fiel von mir ab. Ich werde es nie wieder anlegen.

Gleichzeitig hatte die Krankheit meinen Handlungsraum ohne die vielen Zwänge und Gewohnheiten enorm erweitert. Und damit auch meine Gestaltungsverantwortung . Wie war denn nun meine Vorstellung davon, ein „gutes Leben zu leben“?

Keine Ahnung! Ich hatte tatsächlich keine klare Vorstellung davon, was das für mich persönlich bedeutet.

Ich konzentrierte mich deshalb zunächst darauf, möglichst alle meine klassischen Bilder vom „guten Leben“ loszulassen, die Hände zu öffnen und den Kopf auf der Suche nach klarer Sicht zu heben. Mit offenen Augen die Realität zu erkennen, ohne sie rosig zu malen und ohne sie an meine erfundenen „Bilder im Kopf“ anzupassen war eine schwierige Übung.

Mit der Zeit habe ich daraus für mich ein paar Grundsätze entwickelt, die ich heute in meinem Leben umzusetzen versuche:

  1. Ungewissheit und Unbequemlichkeit aushalten: 
    Wenn ich Unbequemlichkeiten ausweiche, schränke ich mich auf meine persönliche Komfortzone ein. In ihr sind Lernen und neue Erfahrungen nur begrenzt möglich. Wenn ich Ungewissheit scheue, beschränke ich mich nur auf bereits Bekanntes. Ich trainiere mich heute lieber darauf, dass mich Ungewissheit und Unbequemlichkeit nicht aus der Bahn werfen können. Eine Krankheit ist dafür eine harte, aber wirkungsvolle Übung.
  2. Erwartungen und (Vor-)Urteile vermeiden: 
    Bestimmte Erwartungen und (Vor-)Urteile verhindern, dass ich mich über die Dinge freuen kann, die vor mir liegen. Sie verhindern auch, dass ich auf einen anderen Menschen einfach freundlich zugehen kann. Ich arbeite daher daran, meine eigenen Vor-Urteile und Erwartungen zu erkennen und ihnen nicht zu viel Raum zu geben. Vielleicht gelingt es mir sogar, sie irgendwann ganz loszulassen.
  3. Beziehungen vor Bedingungen: 
    Selbst wenn ich alles so hinbekomme, wie ich gehofft habe, werden ich nie die totale Kontrolle über eine Situation haben. Deswegen habe ich aufgegeben, alles und jeden kontrollieren zu müssen. Offen auf andere Menschen zuzugehen ist wichtiger, als von ihnen etwas Bestimmtes zu erwarten, damit eine Beziehungen funktionieren kann. Beziehungen sollten immer Priorität vor Bedingungen haben.
  4. Mitfühlend sein: 
    Wenn mich jemand oder etwas sehr ärgert, versuche ich, mich nicht meinem Ärger oder meiner Frustration hinzugeben. Ich bemühe mich darum, den inneren Schmerz anzuerkennen und zu verstehen, wie er mich oder mein Gegenüber gerade einengt. Ich öffne diesem engen Gefühl mein Herz. Und kann dadurch mitfühlend sein mit mir selbst und mit meinem Gegenüber.
  5. Dankbarkeit üben: 
    Das Leben ist wunderbar, weil es jeden Tag Wunder bereithält. Ich kann sie aber nur erkennen, wenn ich meine Augen offenhalte. Diese Wunder zeigen sich in vielen kleinen Dingen, die meiner Aufmerksamkeit entgehen, wenn ich zu angestrengt mit gesenktem Kopf auf den Fußboden starre.

Ein gutes Leben zu führen ist für mich eine beständige Übung, ohne die Hoffnung auf endgültige Meisterschaft. Hinfallen gehört dazu, aufstehen auch.

Wie führe ich ein gutes Leben? Durch Loslassen. Und dann neu anfangen. Immer wieder.

6 Gedanken zu “Ein gutes Leben leben….

  1. Hut ab!
    Kennst du Sven Marx?
    https://www.sven-globetrotter.com
    Ein Freund von mir, der seine Hirnkrebserkrankung inkl. anschließendem, monatelangem Koma sehr positiv verarbeitet und als „Mutmacher“ mit dem Fahrrad weltweit unterwegs ist – bei einem eingeschränkten 2d-Sehen, bei dem das räumliche Sehen fehlt. Also Treppen etc…

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